Freitag, 19. April 2024

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(Pretrial) Discovery, Depositions und Subpoenas

Wenden wir uns einem Verfahrensabschnitt zu, bei dem zwischen deutschem und US-amerikanischem Zivilprozess erhebliche Unterschiede bestehen: Der Phase vor der eigentlichen Gerichtsverhandlung.

1. Das schriftliche Vorverfahren im deutschen Zivilprozess

Bevor es in Deutschland zu einer Gerichtsverhandlung kommt, werden zunächst Schriftsätze ausgetauscht: Klage, Klageerwiderung, Stellungnahme zur Klageerwiderung (Replik) und Stellungnahme zur Stellungnahme zur Klageerwiderung (Duplik). Manchmal auch noch weitere Schriftsätze. Wir nennen dies das schriftliche Vorverfahren (§ 276 ZPO).

Diese Schriftsätze enthalten in der Regel Beweisanträge/-angebote. Wenn eine Partei meint, dass es auf die Aussage einer bestimmten Person ankommt, dann kann sie diese Person als Zeugen benennen. Die Zeugenbenennung ist in gewisser Weise die Bitte an das Gericht, diese Person dann zur Gerichtsverhandlung zu laden. Wenn der Richter der Auffassung ist, dass es auf die Aussage dieser Person ankommt, dann wird der Zeuge geladen. Andernfalls lädt das Gericht den Zeugen nicht.

Wichtig: Vor der Gerichtsverhandlung hat der deutsche Anwalt keinen „Zugriff“ auf einen Zeugen der Gegenseite. Man kann einen Zeugen der Gegenseite also nicht vor dem Gerichtstermin befragen. Ein gegnerischer Zeuge muss und wird in aller Regel auch nicht mit dem Anwalt der Gegenseite reden.

Mit den eigenen Zeugen, also mit den Zeugen, die man selbst benannt hat, kann man als Anwalt natürlich schon sprechen. Allerdings darf man die Zeugen nicht unsachlich beeinflussen, d.h. zu einer bestimmten Aussage drängen oder überreden.

Die eigentliche Beweisaufnahme, also beispielsweise die Vernehmung des Zeugen, findet dann erst in der Gerichtsverhandlung (Haupttermin) vor dem und vor allem durch den Richter statt.

2. Pretrial Discovery im US-amerikanischen Zivilprozess

a) Im US-amerikanischen Zivilprozess läuft das Vorverfahren und hier speziell die Beweisaufnahme ganz anders ab. Sehen wir uns das einmal exemplarisch am Beispiel des Zeugenbeweises an.

Schon lange vor der eigentlichen Gerichtsverhandlung (Trial) findet eine vorgerichtliche Beweisaufnahme (Pretrial Discovery) statt. In diesem Rahmen führen die Anwälte offizielle Zeugenbefragungen (sog Depositions) durch. Das geschieht in der Weise, dass die Zeugen zum Beispiel in die Kanzlei des Anwalts geladen werden, notfalls unter Androhung von Strafe (Subpoena).

Geregelt ist das Ganze in Rule 30 FRCP (Federal Rules of Civil Procedure) und zB auch in Article 31 CPLR (Civil Practice Law and Rules) von New York.

In Anwesenheit eines Protokollführers (Court reporter, Officer) werden die Zeugen dann vom Anwalt vernommen und müssen die Fragen des Anwalts beantworten. Fragen und Antworten werden wörtlich protokolliert. Der Zeuge wird dabei in der Regel vereidigt. Der Richter ist bei einer solchen Vernehmung (Deposition) nicht dabei, sondern die Pretrial Discovery liegt weitgehend in den Händen der Anwälte.

Diese „vorgezogene“ Zeugenbefragung bedeutet aber nicht, dass im Verhandlungstermin vor dem Gericht (Trial) keine Beweisaufnahme mehr stattfinden würde. Im Gegenteil. Besonders dann, wenn das Verfahren mit Geschworenen stattfindet (Trial by Jury), wird die gerichtliche Beweisaufnahme sogar sehr ausführlich durchgeführt, damit ihr die Geschworenen, die allesamt juristische Laien sind, auch folgen können.

b) Welchen Sinn hat also diese ausführliche Pretrial Discovery mit Depositions? Vor allem folgende:

Informationsgewinnung: Man erfährt schon vor der eigentlichen Hauptverhandlung, was ein Zeuge (vermutlich) aussagen wird.

Beweissicherung: Die Aussage wird aufgezeichnet und gesichert, vor allem für den Fall, dass der Zeuge verstirbt, verschwindet oder seine Aussage später ändert; sei es absichtlich oder weil er sich nicht mehr so gut an den Vorgang erinnert.

Der Nachteil einer solchen – aus unserer Sicht – „ausufernden“ vorgerichtlichen Beweisaufnahme liegt darin, dass diese ein Klageverfahren in die Länge zieht. Ich begleite zur Zeit ein Verfahren vor einem New Yorker Gericht, bei dem die Klage im April 2020 bei Gericht eingereicht wurde. Jetzt hat man sich im April 2021 auf bestimmte Termine für die Pretrial Discovery verständigt. Die nächste Konferenz mit dem Gericht ist dann für Februar 2022 angesetzt, also fast zwei Jahre nach Klageeinreichung. In dieser zweiten Konferenz mit dem Richter will man dann darüber sprechen, ob und – wenn ja – zu welchem Termin der eigentliche Prozess vor dem Gericht, also der Trial, stattfinden soll. Das ist für deutsche Verhältnisse eine sehr lange Zeit. Da würden wir von einer überlasteten, fast schon nicht mehr funktionsfähigen Justiz sprechen.

Umgekehrt besteht natürlich die Chance, dass die Parteien nach der Pretrial Discovery ihre Erfolgsaussichten deutlich besser einschätzen können und unter diesen Umständen gegebenenfalls auf eine mündliche Verhandlung verzichten und sich außergerichtlich einigen.

3. Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Schriftliches Vorverfahren im deutschen Zivilprozess und Pretrial Discovery im US-amerikanischen Zivilprozess dienen beide der Vorbereitung des eigentlichen Verfahrens vor dem Gericht (Haupttermin beziehungsweise Trial).

a) Das deutsche Vorverfahren ist jedoch tendenziell kürzer, da bei uns in dieser Phase noch keine Beweisaufnahme stattfindet, sondern lediglich Beweisanträge für den gerichtlichen Termin gestellt werden. Das Gericht ist im schriftlichen Vorverfahren ständig präsent, indem der Richter Fristen und Termine vorgibt und den Prozessparteien Hinweise erteilen kann und soll (§ 273 ZPO, auch § 139 ZPO). Zum Beispiel kann der Richter die Klagepartei bereits vor dem Termin darauf hinweisen, dass die Klage derzeit unschlüssig erscheint, und sie auffordern, die Klage zu ergänzen und/oder zu erläutern.

b) Die amerikanische Pretrial Discovery liegt demgegenüber fest in den Händen der Anwälte. Diese können Zeugen oder auch die Gegenpartei unter Androhung von Strafe (Subpoena) zu einem Vernehmungstermin laden und zur Vorlage von Unterlagen auffordern. Das Gericht hält sich aus der Pretrial Discovery weitgehend heraus. Lediglich der zeitliche Rahmen wird in (zumeist telefonischen) Konferenzen zwischen Gericht und Anwälten abgesteckt.

Der Umstand, dass in der Pretrial Discovery durch die beteiligten Anwälte bereits umfangreich Zeugenaussagen aufgenommen werden, führt zu einer deutlichen Ausweitung der Aufgaben und Kompetenzen der Anwälte – und damit einhergehend zu einer Entlastung des staatlichen Bereichs, nämlich der Gerichte.

Wegen der eher passiven Rolle der amerikanische Gerichte hängt der Prozesserfolg in den USA meines Erachtens stärker als in Deutschland davon ab, dass man als Prozesspartei von einem kompetenten Anwalt vertreten wird. Dies bedeutet umgekehrt häufig auch deutlich höhere Anwaltskosten als hierzulande.

Mehr als in Deutschland gilt in den USA: Recht haben ist nicht gleichbedeutend mit Recht bekommen. Und einen Prozess muss man sich auch erst einmal leisten können.

Dr. Wolfgang Gottwald
Rechtsanwalt

DR. GOTTWALD
Rechtsanwalt
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