Sie kommen ruhig, und sie kommen pünktlich. Kein Gedränge am Eingang, keine Energy Drinks vom Supermarkt nebenan in der Hand. Man ist ausgeruht und vorbereitet. Die Lesung am Abend ist das Highlight des Tages.
Drinnen in der Buchhandlung, die schon etwas angestaubt ist, lässt man sich auf den aufgestellten Plastikstühlen nieder. Die sind zwar nicht besonders bequem, aber das lassen sich die Zuhörer nicht anmerken. Da wird nicht rumgezappelt, und da werden auch keine Stühle verschoben, damit man mit dem besten Freund oder der besten Freundin zusammensitzen kann. Hier ist man konzentriert, hier geht es um die Lesung.
Der Altersdurchschnitt der Zuhörerinnen und Zuhörer liegt jenseits des Rentenalters. Junge Leute verirren sich eher selten in die Buchhandlung, und für das Buch der heute vorgestellten Autorin interessieren sie sich schon gar nicht.
Dies ist eine Veranstaltung für das, was man vielleicht als das „gehobene Bildungsbürgertum“ bezeichnen kann. Frühere Lehrer, Ärzte, Anwälte. Auch der eine oder andere Gelegenheitsschriftsteller ist darunter.
Man kennt sich, trifft sich regelmäßig bei Veranstaltungen der Volkshochschule, Konzerten in der Oper oder Führungen in einem der Museen der Stadt.
Hier werden keine weißen Sneaker getragen, sondern die vorherrschende Farbe ist ein gedecktes braun oder grau. Hell, also hellgrau, sind nur die Haare der Anwesenden.
Geduldig und konzentriert lauscht man der mit ruhiger Stimme vorgetragenen Lesung der Autorin. In dem Buch geht es um einen älteren Mann und dessen ereignisloses Leben. Diese Ereignislosigkeit wird in dem Buch thematisiert, ja geradezu zelebriert. Wenn sonst nichts passiert, dann ist es eben schon ein erwähnenswertes Ereignis, wenn sich beim Abspülen in der Opernkantine der Lippenstift von den Gläsern löst und wie ein Rinnsal Blut im Abfluss verschwindet. …
Hier wird niemand aufgepeitscht mit „Geht’s euch gut“-Rufen, und der Rotwein, der zur Lesung gereicht wird, dient auch nicht dem Zweck, dass er „reinknallt“ und die Hemmschwelle sinken lässt. Nein, hier lässt man sich alles in Ruhe auf der Zunge zergehen.
Die Aufmerksamkeit und Konzentration der betagten Zuhörerinnen und Zuhörer ist bemerkenswert. Niemand scrollt nervös im Handy herum, um auch ja keine Nachricht von unbekannten Freunden, Influencern oder Followern zu verpassen. Niemand schaut aufgeregt nach links oder rechts, ob da vielleicht ein potentieller Partner für die Nacht sitzt. Keinen interessiert es, ob Lippenstift, Bluse oder Basecap richtig sitzen. Die Zeiten sind vorbei. Man ist, wer man ist, und man hat, was man hat. Da wird sich nicht mehr viel ändern. Muss es auch nicht. Man hat sich mit dem Status Quo arrangiert. Ist ja auch alles gar nicht so schlecht, hätte auch schlimmer kommen können. …
Wolfgang Gottwald
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Die Lesung der alten Dame
DR. GOTTWALD
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