Mein Auto macht seltsame Geräusche. Ich erspare Ihnen hier die Details. Jedenfalls muss es in die Werkstatt.
Der Hersteller meiner Automarke unterhält, neben der Hochglanzniederlassung am Frankfurter Ring, so eine Werkstatt für ältere Fahrzeuge seiner Marke, also ab fünf Jahren. Diese Werkstatt liegt etwas versteckt im hinteren Teil eines weitläufigen Areals in der Ingolstädter Straße. So, als würde sich der Hersteller ein bisschen schämen für diese Altautowerkstatt.
Die Leute dort sind sehr nett und engagiert, obwohl – oder vielleicht auch gerade weil – sie etwas im Schatten ihrer Hochglanzverkäuferkollegen stehen, die den Leuten das „Fahrvergnügen“ näherbringen. – Apropos Fahrvergnügen: Lief diese Werbung eigentlich auch bei uns oder nur in den USA? Für uns Deutsche ist der Begriff „Fahrvergnügen“ ja nicht wirklich witzig, weil nicht unaussprechlich, für die Amerikaner dagegen schon. 13 Buchstaben, und dann auch noch dieser exotische Umlaut („ü“), den kein Ami hinbekommt. Dieses Wort klingt nun mal kein bisschen nach Auto und Spaß. Darin liegt der Witz dieser Werbung.– Aber „Egal!“, um hier mal den Wendler zu zitieren.
Das Problem bei dieser Werkstatt, um auf die Werkstatt zurückzukommen, ist das Hinkommen. Also eigentlich nicht das Hinkommen; denn wenn man hinfährt, hat man sein Fahrzeug ja noch. Schwieriger ist es, wieder wegzukommen, wenn man sein Auto dort zur Reparatur zurückgelassen hat. Dort in der Nähe gibt es nämlich keine U-Bahn Station, und keinen Bus, und zu Fuß zurück in die Zivilisation ist es schon ziemlich weit.- Nein, „zurück in die Zivilisation“ ist jetzt nicht fair, „zurück ins Zentrum“ wollte ich sagen.
Also bin ich auf folgende Idee gekommen: Es stehen doch seit einiger Zeit überall in der Stadt diese netten kleinen Elektroroller herum. So einen könnte ich doch in den Kofferraum laden, damit in die Werkstatt fahren, mein Auto dort abgeben und dann mit dem Elektroroller zurück in die Stadt rollern. Das wäre doch eine geniale Idee, oder?
Dann aber kamen mir Bedenken. Darf man das denn, so einen Roller einfach in den Kofferraum laden und „entführen“? Oder ist das vielleicht schon Diebstahl?
Gehen wir das einmal juristisch systematisch an:
1. Diebstahl hat, etwas vereinfacht ausgedrückt, zwei Elemente, nämlich den Bruch fremden und die Begründung (neuen, nicht notwendiger Weise) eigenen Gewahrsams. Die Juristen, und nicht nur die, nennen das „Wegnehmen“. Hinzu kommen muss in subjektiver Hinsicht die sogenannte Aneignungsabsicht. An dieser Aneignungsabsicht fehlt es, wenn man die Sache, die man jemandem wegnimmt, nicht behalten will.
Erinnern Sie sich an die gelben Leihfahrräder dieser Verleihfirma aus Singapur, die früher überall im Stadtgebiet herumstanden? Eine Zeit lang haben die Leute diese Fahrräder, aus welchem Grund auch immer, reihenweise in den Eisbach geworfen. Das war kein Diebstahl, sondern Sachbeschädigung. Wer eine Sache entwendet, um sie sogleich zu zerstören, begeht keinen Diebstahl.
2. Trotzdem könnte ich natürlich in den Verdacht geraten, ein Dieb zu sein. Nehmen wir einmal an, eine Polizeistreife sieht mich, wie ich da diesen kleinen Elektroroller in den Kofferraum lade. Dann könnten die natürlich denken, dass ich vorhabe, den Roller zu klauen. Aber da bewegen wir uns, von der juristischen Dogmatik her, in einem anderen Bereich, nämlich in dem der Beweislage. Bei unserer Betrachtung hier möchte ich dagegen sozusagen vom Standpunkt des Allwissenden ausgehen, von einer Welt absoluter Gerechtigkeit. Wir (bzw. die Polizei und der Richter) wissen, dass ich den Roller nicht behalten will. Daher ist es objektiv gesehen kein Diebstahl.
3. Bei der Gelegenheit könnte ich Ihnen noch eine kleine Anekdote aus meiner Referendarzeit erzählen. Ich war damals bei der Staatsanwaltschaft und sollte für den „richtigen“ Staatsanwalt die Sitzungsvertretung übernehmen. Angeklagt war eine junge Frau, der man vorwarf, bei dm etwas gestohlen zu haben. Eigentlich war sie sogar noch sehr jung. Ich glaube, es handelte sich um eine Jugendstrafsache. Egal – Schon wieder, dieser Wendler verfolgt mich heute geradezu.
Nach meinem (damaligen) Verständnis von Gerechtigkeit, war das ein klarer Fall für den Grundsatz in dubio pro reo, also Im Zweifel für den Angeklagten. Die Täterin behauptete, den Kosmetikartikel nicht gestohlen, sondern schon einen Tag vorher gekauft zu haben, was ihre Freundin auch bestätigte. Eine Verkäuferin dagegen sagte aus, dass sie den Diebstahl beobachtet hätte. Aussage gegen Aussage, oder? So dachte ich jedenfalls damals und plädierte ganz mutig auf Freispruch. Ich glaube, ich habe ihr sogar noch empfohlen, künftig immer besser die Quittung aufzuheben, damit sie gar nicht erst in Verdacht gerät. …
Und jetzt raten Sie mal, wie das Verfahren ausgegangen ist? Das Mädchen wurde natürlich wegen Diebstahls verurteilt. Warum? Weil der Richter einfach keinen Zweifel hatte. Für ihn war aufgrund der Aussage der Verkäuferin klar, dass die junge Frau den Kosmetikartikel gestohlen hatte. Ihre Behauptung, das Ding schon einen Tag vorher gekauft zu haben, hielt er für völlig unglaubwürdig. Da er somit keinen Zweifel hatte, war auch kein Raum für den Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“. – So schnell kann das manchmal gehen mit einer Verurteilung.
4. Aber zurüch zu unserem E-Scooter. Ist mein Vorhaben damit, weil ich mir den Roller nicht rechtswidrig aneignen will, schon gänzlich straflos? Nein, ist es nicht; denn es gibt da diesen § 248b StGB. Danach ist auch der unbefugte Gebrauch eines Fahrzeugs strafbar. Man nennt das den sogenannten Gebrauchsdiebstahl, lateinisch furtum usus, mit der Betonung auf dem zweiten „us“, also Genitiv, u-Deklination. – Diebstahl (furtum) des Gebrauchs (usus). Hätten Sie nicht gedacht, dass Sie das noch einmal brauchen würden, was? – Mit „Fahrzeug“ ist übrigens nicht nur das Kraftfahrzeug (Auto) gemeint, sondern auch ein Fahrrad. Das steht ausdrücklich im Gesetz. Wer also ein Auto oder auch nur ein Fahrrad wegnimmt, um damit eine Spritztour zu unternehmen, begeht zwar keinen Diebstahl, aber eine unbefugte Gebrauchsanmaßung. Und die ist eben auch strafbar.
5. Würde ich also durch meine Aktion mit dem Elektroroller den Straftatbestand des § 248b StGB erfüllen? Nun ja, ganz so eindeutig scheint mir das nicht zu sein. Denn die Firma Tier (oder Circ oder Lime oder wie sie alle heißen) stellt ihre Elektroroller ja gerade deshalb auf die Straße, damit Leute wie ich die Fahrzeuge mieten. Gut, diese „Verleihfirmen“ denken dabei natürlich nicht an die Gestaltung, dass jemand den Roller in den Kofferraum seines Wagens packt und damit spazieren fährt. Sondern die haben schon recht detaillierte Nutzungsbedingungen. Zum Beispiel darf man mit dem Roller nicht in den Englischen Garten fahren, nicht zu zweit drauf stehen und man soll damit auch keine Bierkästen befördern, wie man es manchmal beobachten kann. Aber nicht jeder Verstoß gegen die Nutzungsbedingungen ist auch gleich strafbar. Nein, mein Herr, da muss man schon unterscheiden zwischen Zivilrecht und Strafrecht!
6. Außerdem gibt es meine Aktion mit dem Elektroroller im Kofferraum ja in zwei Varianten: Zum einen kann ich den Roller in den Kofferraum laden und erst in der Werkstatt, wenn ich also mit dem Roller wieder in die Stadt zurückfahren will, die Mietzeit beginnen lassen. Die andere Variante besteht darin, dass ich die Mietzeit schon dann aktiviere, wenn ich den Elektroroller in den Kofferraum lade. Bei dieser letzteren Variante würde ich also die volle Zeit, in der sich das Fahrzeug in meinem Gewahrsam befindet, bezahlen. Der Rollervermietungsfirma entsteht dabei keinerlei Schaden. Im Gegenteil, die bekommen sogar Geld dafür, dass der Elektroroller sehr komfortabel im Kofferraum meines Autos ruht. Also da können die doch eigentlich nichts dagegen haben, oder?
7. Die andere Variante, nämlich die Mietzeit erst dann beginnen zu lassen, wenn ich den Roller wieder sozusagen „auspacke“, erscheint mir jetzt bei näherer Betrachtung doch etwas bedenklich. Denn in der Zeit, in der sich der Roller bei mir im Kofferraum befindet, kann er ja kein Geld verdienen. Er kann von keinem anderen Nutzungswilligen gemietet werden. Steigern wir das mal ins Extreme: Ich lade den Roller in meinen Kofferraum und fahre ihn den ganzen Tag lang oder sogar eine ganze Woche lang spazieren. Nehme ihn vielleicht sogar mit in den Urlaub, um dann mit dem Ding die Strandpromenade von Nizza auf und ab zu rollen. Dann entsteht der Rollerverleihfirma natürlich schon ein Schaden. Also das kann nicht in Ordnung sein. Ist es aber auch schon strafbar? Da müssten wir jetzt einen Strafrechtler fragen, der ich leider nicht bin.
8. Bleibt also die Variante, dass ich den Roller schon beim Einladen in den Kofferraum miete. Das ist auf jeden Fall kein Diebstahl, weil ich den Roller ja zurückgeben will. Und der Rollerverleihfirma entsteht auch kein Schaden, weil ich die gesamte Mietzeit auch voll bezahle. Der Roller wird auch nicht beschädigt. Handle ich also gegen den Willen des Berechtigten, wie es § 248b StGB für eine Strafbarkeit verlangt?
Also das Argument, dass man mit dem Roller den in den AGB vorgegebenen Bereich nicht verlassen darf, weil man ihn im Englischen Garten beschädigen könnte, greift jedenfalls nicht. In meinem Kofferraum ist er sicher und wird nicht schmutzig. Auch das Argument, dass ihn die Firma dann nicht mehr findet oder von irgendwo weit her zurückholen muss, kann hier nicht einschlägig sein, weil ich den Roller ja wieder in die Stadt zurückbringe. Meinetwegen sogar an exakt den gleichen Ausgangsort, wo ich ihn eingeladen habe.
9. Also je mehr ich mir dieses Szenario überlege, umso mehr komme ich zu dem Ergebnis, dass es eigentlich doch eine ganz clevere Idee ist. …
10. Falls es Sie interessiert: Ich habe mich dann übrigens doch gegen jede Form von Rollereinsatz entschieden und bin mit dem Taxi von der Werkstatt zurück in die Stadt gefahren. …