Freitag, 19. April 2024

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Jura erstes Semester

Wollen Sie einmal wissen, womit sich Jurastudenten (und Studentinnen natürlich auch) im ersten Semester so herumschlagen? Gut, ich zeige es Ihnen.

Ausgangspunkt ist folgender Fall:

Der 17-jährige M (M steht sinnigerweise für minderjährig) leiht sich von seinem volljährigen Freund E (Eigentümer) ein Fahrrad. Weil M dringend Geld braucht, verkauft er dieses Fahrrad kurze Zeit später an den Dritten D. Die Eltern des M sind mit diesem Vorgehen ihres Sohnes nicht einverstanden. Wird D trotzdem Eigentümer des Fahrrads?

Und hier die Lösung, Schritt für Schritt:

1. Der Kaufvertrag zwischen M und D ist unwirksam. Warum? Nun, M ist minderjährig. Das macht seine Willenserklärungen grundsätzlich „schwebend unwirksam“ (§§ 106 ff BGB). Da die Eltern das Verhalten ihres Sohnes nicht genehmigen, ist der Kaufvertrag sogar endgültig unwirksam.

2. Jetzt kommt aber das sogenannte Abstraktionsprinzip (Trennungsprinzip) zur Anwendung. Abstraktionsprinzip heißt: Den einheitlichen Lebensvorgang „Kaufgeschäft“ spalten wir auf in ein sogenanntes Verpflichtungsgeschäft (Kaufvertrag) und in ein sogenanntes Erfüllungsgeschäft (Übereignung).

Das Abstraktionsprinzip ist übrigens, wenn ich das richtig sehe, eine deutsche Besonderheit. Ein amerikanischer Jurist beispielsweise würde Sie nur mit großen, staunenden  Augen anschauen, wenn Sie versuchen, ihm diese Konstruktion nahe zu bringen.

3. Der Kaufvertrag ist, wie wir gesehen haben, wegen der Minderjährigkeit des M unwirksam. Wie sieht es aber mit der Übereignung aus?

Hierzu müssen Sie folgendes wissen:

a) Ein Rechtsgeschäft, welches dem Minderjährigen keinen rechtlichen Nachteil bringt, ist trotz der Minderjährigkeit wirksam (§ 107 BGB).

b) Und die Übereignung von M an D, bringt die dem Minderjährigen denn keinen rechtlichen Nachteil? Nun, auf den ersten Blick würde man sagen: Doch, natürlich bringt ihm die einen rechtlichen Nachteil, er verliert ja das Fahrrad. Außerdem macht er sich gegenüber E doch schadensersatzpflichtig, wenn er dessen Fahrrad einfach so weiterverkauft. …

Dann müssen Sie jetzt aber genauer hinschauen: Der Minderjährige hatte sich das Fahrrad nur geliehen, war also nicht Eigentümer des Fahrrads. Mithin kann er durch eine Übereignung gar nicht sein Eigentum verlieren, weil er ja gar kein Eigentum hatte. Clever, oder? So steht es zumindest im Lehrbuch meiner Tochter, und das wollen wir jetzt mal nicht in Zweifel ziehen. An irgendeine Autorität müssen die jungen Leute ja schließlich glauben.

c) Die Übereignung von M an D scheitert also nicht an der Minderjährigkeit des M.

4. Aber kann D denn überhaupt von einem Nicht-Eigentümer (M) rechtswirksam Eigentum erwerben? Ja, das kann er, wenn er gutgläubig ist. So steht es in § 932 BGB. Gutgläubig heißt: D muss daran geglaubt haben, dass M Eigentümer ist.

Der gute Glaube an die Volljährigkeit des M wäre demgegenüber nicht geschützt. Aber die Tatsache, dass M noch nicht volljährig war, steht der Rechtswirksamkeit der Übereignung ja, wie oben erläutert, nicht im Wege, da die Übereignung für ihn keinen rechtlichen Nachteil bedeutet, jedenfalls nach der herrschenden Lehrbuchmeinung.

5. Scheitert der Eigentumserwerb des D aber vielleicht an § 935 BGB? Danach ist ein gutgläubiger Erwerb nicht möglich an Sachen, die dem Eigentümer „abhanden gekommen“ sind.

„Abhandenkommen“ heißt unfreiwilliger Verlust des unmittelbaren Besitzers. Hat E den unmittelbaren Besitz an seinem Fahrrad unfreiwillig verloren? Nein, hat er nicht, denn er hat dem M das Fahrrad ja geliehen, also freiwillig überlassen. Zwar nicht zum Verkauf, aber doch immerhin zur Nutzung. Somit liegt, anders als bei einem Diebstahl, kein Abhandenkommen vor.- Diebstahl fällt unter Abhandenkommen, Unterschlagung dagegen nicht. Das kommt dann allerdings erst in einem späteren Semester.

6. Fazit: D wurde Eigentümer des Fahrrads kraft gutgläubigen Erwerbs. Die Minderjährigkeit des M steht zwar der Rechtswirksamkeit des (schuldrechtlichen) Kaufvertrages im Wege, nicht aber der (dinglichen, sachenrechtlichen) Übereignung.

Hätten Sie das auch so gesehen? Nun, jetzt haben Sie zumindest einmal gesehen, mit welcher juristischen „Akrobatik“ sich unsere Erstsemester so herumschlagen müssen. Wenn Sie also das nächste Mal einem jungen Juristen (m/w) begegnen und seine Denkweise etwas sonderbar finden, seien Sie nachsichtig. Er kann nicht anders. Wir haben ihm das so beigebracht.

Dr. Wolfgang Gottwald
Rechtsanwalt

DR. GOTTWALD
Rechtsanwalt
Attorney at Law

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