Freitag, 4. Oktober 2024

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Unser Kaktus stirbt

Vor etwa vier Jahren ist er zu uns gekommen. Ich habe ihn im Blumenladen gesehen und mich spontan in ihn verliebt. Seitdem stand er bei uns im Büro, im Flur, am Eingang zum Besprechungszimmer.

Er ist groß, etwa 10 cm größer als ich. Also so etwa 1,85 m. Jeden Morgen, wenn ich ins Büro kam, haben wir uns stumm begrüßt. Dabei kannte ich noch nicht einmal seinen Namen.

Seit einiger Zeit geht es ihm schlecht, immer schlechter, und es wird nicht besser. Zuerst dachte ich, er verträgt die Hitze nicht und braucht mehr Wasser. Seit ein paar Wochen ist es sehr heiß hier bei uns in München.

Aber der Blumenhändler meint genau das Gegenteil. Er hat zu viel Wasser, so dass seine Wurzeln verfaulen.

Täglich zieht sich das Leben ein Stückchen mehr aus ihm zurück. Von außen sieht es aus, als ob er vertrocknet. Aber angeblich hat er ja zu viel Wasser bekommen.

Irgendwie ist es so, als ob ein Familienmitglied von uns geht. Man versucht, die Ursache der Erkrankung herauszufinden, recherchiert im Internet, fragt die Spezialisten, in diesem Fall halt den Blumenhändler. Manches, was man im Internet findet, macht einem Hoffnung. Anderes lässt einen erkennen, dass die Situation wohl aussichtslos ist.

Um ihn zu retten, habe ich ihn, dem Rat des Blumenhändlers folgend, mehrere Tage lang überhaupt nicht mehr gegossen. Als er dann immer mehr vertrocknete, habe ich den lehmigen Boden mit einer Viertel Kanne Wasser getränkt, in der Hoffnung, dass zumindest etwas davon vom Stamm und den langen Armen aufgesaugt wird und diesen wieder Leben verleiht. Aber es hat nichts geholfen. Der Prozess des Sterbens ist unaufhaltsam.

Heute habe ich den Kaktus auf den Balkon gestellt. Zum einen, weil ich die irrationale Hoffnung habe, dass ihm die frische Luft und die Sonne gut tun könnten – ist ja schließlich ein Kaktus. Zum anderen aber, das muss ich beschämt einräumen, weil er mittlerweile etwas modrig riecht. Eben so wie eine Pflanze, die verendet.

Wir haben jetzt Freitag Nachmittag. Ich werde ihn übers Wochenende allein auf dem Balkon lassen. Vielleicht ist das heute unser letzter Abschied. Vielleicht ist er am Montag nicht mehr der, der er einmal war.

Leb wohl, alter Kaktus.

Wolfgang Gottwald (08/2020)

DR. GOTTWALD
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