Exotic Places and Stranger Things
Früher, so vor 20 oder 30 Jahren, fand ich Fotografieren spießig und lästig. Wer ständig mit der Kamera herumhantiert, kann die Dinge doch gar nicht richtig erleben, den Augenblick nicht richtig genießen, dachte ich. Fotografieren ist etwas für Touristen, nicht für Traveller.
Heute geht es mir genau umgekehrt. Ein Erlebnis wird erst dann zum Erlebnis, wenn man es auch irgendwie fotografisch festhält. Vielleicht liegt das daran, dass man, wenn man die 50 einmal überschritten hat, nicht mehr das selbe Vertrauen in die Bestandskraft des eigenen Erinnerungsvermögens hat. Wer kann mit Mitte 50 schon sicher sagen, ob er sich in zehn oder fünfzehn Jahren noch an das erinnert, was er heute erlebt?
Andererseits: Diese „Besessenheit“, jeden Augenblick seines Lebens zu filmen oder zu fotografieren, haben ja nicht nur Menschen fortgeschrittenen Alters, sondern auch und gerade junge Leute. Wenn Sie einmal auf Instagram unterwegs sind, begegnen Ihnen Menschen, die jeden scheinbar noch so unbedeutenden Augenblick ihres Lebens auf Video aufnehmen, um ihn mit ihren zig tausend Followern zu teilen. Das fängt an mit dem ersten leicht überdrehten „Good morning, Cutiepies!“ und geht weiter mit der Dokumentation des Frühstücks, Schulwegs, der großen und kleinen Pausen, erreicht dann einen ersten Höhepunkt beim Mittagessen und setzt sich danach etwa im Stundentakt so fort. Von Highlights wie dem neuen Haustier ganz zu schweigen. So als ob ein Leben erst dann zum Leben wird, wenn man es fotografisch dokumentiert und mit seinen Abonnenten teilt.
Gut, manche machen das, um damit Geld zu verdienen. Diese Menschen nennt man Influencer. Aber die große Mehrheit dieser „Selbstdarsteller“, was ich jetzt gar nicht abwertend meine, verdient damit kein Geld. Also warum halten sie dann jeden Augenblick ihres Lebens fotografisch fest? …
Egal. Ich jedenfalls kann mittlerweile gut nachvollziehen, dass man Eindrücke und Erlebnisse mit der Handykamera festhält. Das geht ja heute auch so viel einfacher und schneller als mit den Fotoapparaten aus meiner Jugendzeit. Bis man die erst einmal auslösebereit in Anschlag gebracht hatte, war der Augenblick schon fast wieder vorübergezogen. Heute dagegen hat man das Handy nahezu jederzeit griffbereit, so wie früher in den siebziger Jahren vielleicht den Kamm oder die Zigarettenschachtel. …
Wer weiß, vielleicht schaut man sich die vielen Bilder, die man da so im Laufe eines Tages oder gar Urlaubs macht, später ja auch einmal an. Und sei es nur, um damit seine Website etwas bunter zu gestalten.
Wolfgang Gottwald